Mo, 24. Februar 2014

"Melting Pot" in Freiburg - Gesellschaft in Bewegung

Trinationales Tanz-/Schauspielprojekt "Melting Pot" in Freiburg.

„Melting Pot“ Foto: Kolodziej

"Melting Pot": War das nicht einmal? Jene in den USA geborene Utopie eines Verschmelzens verschiedener Kulturen und Identitäten, auf dass aus diesem Amalgam ein neuer Menschentypus hervorgehe? Seit dem 18. Jahrhundert und verstärkt dann im Aufbruch der Moderne war das biblisch aufgeladene Bild leitend für die Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten. Heute, nach dem offensichtlichen Scheitern der Idee, spricht man von multikulturellen Gesellschaften.

 

Es muss Gründe haben, wenn das Theater Freiburg jetzt eine Performance über Migration "Melting Pot" nennt – und der erste und vordringliche mag darin bestehen, dass aus dem "über" ein "mit" geworden ist: Sieben junge Erwachsene mit "Migrationshintergrund" aus sieben verschiedenen Herkunftsländern – Pakistan, Äthiopien, Uganda, Tunesien, Iran, Martinique und La Réunion –, die ihr Weg ins Dreiländereck geführt hat, haben sich für einen utopischen Augenblick auf der Bühne des Kleinen Hauses zusammengefunden und bilden mit dem Freiburger Schauspieler Frank Albrecht und der Belforter Tänzerin Christina Castel eine äußerst vitale Gruppe.

Und noch andere haben für diesen bemerkenswerten Abend zusammengefunden: der Regisseur und Leiter des Jungen Theaters Basel Christoph Frick, die Choreographin und Leiterin des Centre Choréographique National de Franche-Comté (CCNFC) in Belfort Joanne Leighton und die Freiburger Dramaturgin Jutta Wangemann: "Melting Pot" ist das Ergebnis der ersten trinationalen theatralen Zusammenarbeit im Rahmen des von der Stiftung Pro Helvetia maßgeblich geförderten Programms "Triptic – Kultur am Oberrhein". So. Das muss alles gesagt werden, um zu zeigen, wie viele Zutaten in diesen Topf gekommen sind – und umso höher zu schätzen, dass sich diese sehr unterschiedlichen Kräfte und kreativen Möglichkeiten tatsächlich in einer ästhetisch homogenen, schlüssigen und überzeugenden Aufführung verbunden haben: zu einem tänzerisch-schauspielerischen, Laien und Profis auf Augenhöhe integrierenden "Melting Pot" eben.

 

Viva Schudts Bühne ist ein quadratischer Tanzboden, in dessen wie Vogelschiss gesprenkelten weißen Flecken sich allmählich die Umrisse (Süd)Europas erkennen lassen. Eine Festung sieht anders aus. Über diese Landkarte laufen, springen, hüpfen, tänzeln, kreiseln die jungen Migranten, überwiegend Männer, von vorn nach hinten, von links nach rechts, vor- und rückwärts und manchmal in rasend kleinen Schritten auf der Stelle wie ein Hamster im Laufrad. Es ist eine Gesellschaft in permanenter, flüssiger, dynamischer Bewegung: Unterwegssein als – keineswegs deprimierende – Lebensform.

 

Schließlich drängt sich die ganze Gruppe auf einem Fleck zusammen: Südwestdeutschland-Deutschschweiz-Ostfrankreich, na klar. Und dann fangen sie an zu sprechen, zählen in schnellem Rhythmus die Namen von Orten aus der Gegend, auf, die bekannt und fremd zugleich klingen. Ihre eigenen Geschichten erzählen sie nicht. Nur eine von ihnen deutet an, dass sie im Iran verfolgt wurde, weil sie Christin ist. Ein anderer stellt den weiten Weg von Uganda nach Deutschland pantomimisch dar: ein paar Schwimmstrecken sind auch dabei. Das Mühsame der langen Reise löst sich so auf in Heiterkeit und Lachen. Wie diese 70 Minuten sich überhaupt von jeder Beschwernis, die mit dem Thema in der öffentlichen Auseinandersetzung verbunden ist, spielerisch lösen. Statt der Angst vor dem Fremden, die von einer populistischen Politik immer wieder gern geschürt ist, herrschen Neugier und Offenheit. Aber auch jenes politisch korrekte Gutmenschentum, das aus jedem Migranten einen verfolgten Märtyrer machen möchte, kommt nicht zum Zug. Diese selbstbewussten Sieben sind alles andere als ausgegrenzte Opfer.

 

Auf der Bühne bilden sich stattdessen immer wieder neue Formationen: Wer dazugehört und wer nicht, darüber entscheidet die wechselnde Perspektive und die Art der Fragestellung. Wer hat schon mal im Gefängnis gesessen? Wer hat einen falschen Pass besessen? Wer kennt mehr als fünfzehn Länder? Wer spricht mehr als fünf Sprachen? Wer ist alt? Wer hat das Beste im Leben schon hinter sich? Da gibt es ein lustiges Geschiebe, auch Unentschiedenheit – bei Frank Albrecht etwa, der an Lebensjahren deutlich mehr zählt als seine Mitspieler. Aber ist er deswegen schon alt? Man sieht und man spürt, wie willkürlich alle kategorialen Einteilungen sind – das zeugt ein luftiges Gefühl der Befreiung. Die Sarrazins und die Blochers dieser Welt sind gebannt an diesem Abend, der vernehmlich, aber unhörbar "wir alle" sagt. Und nicht: die da draußen und wir hier drinnen.

 

Da gibt es dieses Foto, das Weltfoto des Jahres geworden ist und in "Melting Pot" nachgestellt wird: Menschen am Strand recken nachts ihre leuchtenden Smartphones in die Höhe, um Kontakt aufzunehmen: mit der Heimat, mit der Welt. In der vernetzten Globalgesellschaft mit ihren Zirkulationsströmen wachsen andere Formen von Identitäten heran. Das muss kein Grund zur Panik sein. Die Ausgelassenheit des am Ende zu heftigen Beats wild tanzenden Ensembles steckt an. Melting Pot: Vielleicht ist der schöne Schwung dieser kleinen Theaterutopie ja nicht morgen schon wieder verflogen. Viel Jubel.

 

Betina Schulte


24.02.2014

Kultur „Melting Pot“ mit jungen Migranten 

Ein vorbildliches Tanzprojekt im Dreiländereck Deutschland-Schweiz-Frankreich

Tanz ist international. Während die Schweiz dabei ist, die Einwanderung zu begrenzen, organisierten jetzt drei Theater ein Tanzprojekt mit jungen Migranten. Das Theater Freiburg, das Junge Theater Basel und das Choreografie-Zentrum Belfort fanden sich zum multinationalen Tanz-Schauspiel-Projekt „Melting Pot“. Über der Freiburger Bühne markiert ein Schild den Treff-Point. Zur sirrenden Klangkulisse (von Peter Crosbie) entfaltet zunächst jeder Teilnehmer für sich seine Bewegungssprache (Choreografie: Joanne Leighton). Sie kommen aus Äthiopien, dem Iran, La Réunion, Martinique, Pakistan oder Uganda. Regisseur Christoph Frick inszeniert eine offene Probensituation. Die jungen Einwanderer erzählen, tanzen und spielen, wie sie peu à peu zur Gruppe zusammenwachsen.

Zuerst nennen sie ferne Länder- und Städtenamen. Dann wird der Fokus enger und richtet sich auf die Region zwischen Basel und Baden-Baden. Jetzt sind sie da! Aber wie sind sie hergekommen? Sie schwimmen, reiten, rudern, rennen. Das Wort „Fortbewegung“ wird getanztes Schicksal. Und ihr Tanz führt sie nach einer Schlacht mit Sandkissen zusammen zum Menschenkörperknäuel. Kontrollfragen bringen sie wieder auseinander: „Wer spricht deutsch?“ – „Wer hat eine Aufenthaltsbewilligung?“ Ihre Antwort: vitaler Bewegungswitz.

Eine der eindrücklichsten Bild-Ideen stammt vom amerikanischen Fotografen John Stanmeyer: Flüchtlinge stehen aufrecht in dunkler Nacht und halten ihre leuchtenden Handys zum Himmel, um ihre Angehörigen zu erreichen. In Freiburg halten die jungen Migranten zudem Familienfotos in die Luft. John Stanmeyer erhielt für sein Foto kürzlich den World Press Photo Award 2014. Die multikulturelle Tanztruppe im Freiburger Theater erhielt stürmischen Applaus. Sie kamen gut an, aber im Alltag angekommen sind sie noch nicht. Ihre Zukunft liegt in den Sternen, fahl leuchtend wie ihre Handys: „In zwanzig Jahren werde ich unabhängig sein – ja oder nein?“ Der Ausgang ist offen. (sgk)