Who Cares. Können Roboter pflegen? - Münchner Kammerspiele

 

Nur die Maschine kümmert's noch

 

von Anna Landefeld

 

München, 3. Juni 2021. Am Ende passt alles in die berüchtigte eine Kiste – was vom Menschen übrigblieb. Und Martin Weigel, der trägt das Memento mori in den andächtig weißen und stillen Werkraum der Münchner Kammerspiele. Im lauten orangenen Trainingsanzug steht er da, kräftig, groß, als Mann in den besten Jahren. Die Kiste kippt er aus, kniet nieder zu den Insignien des Alterns: Krücke, Tabletten, Brille, Schlappen, Unterhemd, Schlafanzughose, Windel. Man sieht förmlich den Geruch, diesen ganz eigenen Geruch alternder Menschen. In einen wird sich Martin Weigel verwandeln. Ganz leise macht er das, so wie sich nun mal auch das Alter ganz leise in einen hineinschleicht. Der knallig orange Trainingsanzug wird fallen, am Ende ist er ein grauer Greis.

 

Was machen wir mit unseren Alten?

 

Dieses Ende aber, das ist hier der Anfang: Was eigentlich, verdammt nochmal, machen wir mit unseren Alten? Und wie, vor allem? Die Frage nach dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Pflege ist eine spannende, eine technische, eine moralische Debatte und leider auch eine zynische. Gesine Schmidt denkt in ihrem dokumentarischen Theatertext "Who Cares – Können Roboter pflegen?" die notwendigen Gedanken. Die Künstliche Intelligenz, die Maschine soll es also richten, das mit der Pflege.

 

Regisseur Christoph Frick gelingt ein wahrhaftiges Kunststück – etwas so Schmerzhaftem wie dem bis zum Überdruss diskutierten Pflegenotstand eine frische Dringlichkeit zu vergeben. Infotainment-Theater – den Ernst der Sache verrät Christoph Frick dabei in keiner Minute.

 

© Simon Hegenberg

 

Sicherlich, keine leichte Aufgabe. Gesine Schmidts Ursprungstext ist zunächst schematisches Textflächenmonstrum: leicht sperrig wie sein wunderbar hintersinniger Titel, Standpunkt an Standpunk gereiht, Protokolle einer umfassenden Recherche, ihre Gesprächspartner:innen-Liste stellt sie voran. Da spricht die Projektleiterin im Usability-Bereich des Assistenzroboters Lio aus Zürich, kommt der Techniksoziologe der Bauhaus-Universität in Weimar zu Wort, genauso wie ein 84-jähriger Heimbewohner oder der Geschäftsführer der Caritas.

 

Verspielt, schwermütig, rührend

 

Regisseur Christoph Frick bricht mit dieser Struktur. Aus Protokollflächen werden Gedankenschnipsel, vieles passiert parallel, und dennoch bleibt alles klar. Schnell, schneller, am schnellsten aneinandergereiht, gerade so wie wir Aufmerksamkeitsökonomiegeschädigten und Pflegenotstanddiskussionsüberdrüssigen es gerade noch aushalten. Weil das Thema uns langweilt, weil es schmerzt, weil es sich im Kreis dreht.

 

Christoph Frick ist ein Mutiger, seine Inszenierung eine verspielte Nummernrevue, in der die bereits realexistierenden Assistenzroboter namens Lio, Garmi, Rollin Justin und Pepper wie in einer überdrehten Verkaufsshow nacheinander abgefeiert und beklatscht werden. Ironisch, aber nicht albern, ernsthaft, aber nicht schwermütig, rührend, aber nicht kitschig, zynisch, aber nicht verbittert, moralisch, aber nicht zeigefingrig.

 

Dass das so hervorragend funktioniert, liegt auch an den fünf sehr besonderen Schauspieler:innen, denen Christoph Frick gleichberechtigten Spielraum gibt. Da ist die krawallige Johanna Eiworth, der die Überarbeitung und Ausbeutung in die Glieder und ins Gesicht schießt, wenn sie in die Rolle der Pflegenden schlüpft. Oder einen Monolog darüber hält, dass man ja keine Zeit hat für Omi und dass das schon eine perfide, gesellschaftliche Entwicklung sei, aber man müsse Karriere machen, in den Urlaub fahren, Serien gucken. Minutenlanges Mantra, wieder Memento Mori: Am Ende quasselt Eiworth Zusammenhangloses, schreit sich ins Fäkalsprachige hinein, spaltet sich auf, bis man nicht mehr weiß, wer und was da aus ihr herauskotzt – die überforderte Angehörige, die demente Mutter oder die ausgebrannte Pflegekraft. Aber sie alle verbindet Wut über ein Problem, dessen faulige Wurzeln viel tiefer liegen. Die Zustände in den Alten- und Pflegeheimen sind nur ein Symptom für gesellschaftliche Fehlstellungen.

 

Zärtlicher Moment

 

Und dann passiert wieder Zärtlichstes bei Christoph Frick. Etwas, dessen Wichtigkeit man nicht in Sprache fassen kann, weil es eben nichts zu diskutieren gibt: menschliche Berührung und Begegnung. Nach all dem Lärm nun also ein Pas de deux. Und was für eins. Die Liebe, die da zwischen Martin Weigel und Erwin Aljukić entsteht, verströmt sich im gesamten Werkraum, legt sich wie ein warmer Hauch um einen, während Weigel den wesentlich kleineren und schmächtigeren Aljukić auf Händen trägt, ihn an den Füßen packt, umherwirbelt, auf die Schulter setzt, dann auf den Rücken, sich sacht mit ihm über den Boden rollt. Oh, wie könnte eine Künstliche Intelligenz jemals zu so etwas fähig sein.

 

Am Ende Ernüchterung. Da erzählt Christian Löber leicht nerdig etwas von simuliertem Interesse und dass das besser sei als allein zu sein. Dass das funktioniert, beweist er kunstgriffig in einem kleinen Plausch mit dem Publikum. Simuliertes Interesse also – wer ist damit gemeint, tatsächlich die Roboter oder vielleicht doch wir heute Abend?

 Premiere in den Kammerspielen: "Who Cares?

Und wer kümmert sich?

 

3. Juni 2021, 18:48 Uhr

 

Die Münchner Kammerspiele öffnen mit "Who Cares?", einem Stück über den Pflegenotstand. Regisseur Christoph Frick macht aus der Vorlage von Gesine Schmidt einen wirkmächtigen Theaterabend.

 

Von Egbert Tholl

 

Jetzt haben auch die Münchner Kammerspiele ihre erste echte Premiere vor Publikum herausgebracht. Dass diese den Titel "Who Cares" trägt, hat nicht etwa damit zu tun, dass das Haus im Lockdown sieben Monate lang unter dem Wahrnehmungsradar irgendwas vor sich hin wurschtelte. Man sollte also den Titel nicht mit "Wen juckt's" übersetzen, sondern mit "Wer kümmert sich". Wenn der Abend nach eineinhalb Stunden vorbei ist, weiß man, dass mit der Inszenierung von Christoph Frick die Zeit der Ablenkung mit Internet-Albernheiten passé ist. Es beginnt fies fröhlich, aber entlässt einen in eine Dunkelheit, die fast so groß ist wie die eines Theaters kurz nach Vorstellungsende.

 

 

Es geht also um Pflege. Um Pflegenotstand. Und um die Fragen, ob und was man dagegen tun kann. Dafür hat die Autorin Gesine Schmidt eine ungeheure Fleißarbeit verrichtet, hat Heimbewohner und Heimleiterinnen, Pflegedienstleister und eine Ethikerin befragt, Wissenschaftler, Marketingleiter und Techniker - im Untertitel des Stücks steht die Frage "Können Roboter pflegen?". Die persönliche Antwort darauf wie auf die ganze hier ausgebreitete Pflegemisere ist, dass es besser ist, nicht zu alt und schon gar nicht pflegebedürftig zu werden. Am Ende hört man die Worte einer Pflegedienstleiterin: "Liebe Gesellschaft, ihr erntet, was ihr wollt. Wenn ihr hohe Qualität wollt, dann setzt euch dafür ein. Und wenn es egal ist, wie ein alter Mensch am Lebensende versorgt wird, dann kommuniziert das bitte auch so: Es ist egal, langt auch so!"

 

Will man als Letztes in seinem Leben einen Geist mit Flachbildschirm sehen?

 

Schmidts Textsammlung ist eine facettenreiche Stoffsammlung, mit der man jede Diskussion über den Pflegenotstand profund unterfüttern kann, aber sie ist per se völlig untheatralisch. Das kümmert Christoph Frick wenig. Er hat kann aus schwierigen Sujets wirkmächtige Theaterabende bauen, und das gelingt ihm auch hier. Angesichts der Fülle des Materials lässt er sich erst einmal viel Zeit. Er schickt Martin Weigel ganz allein auf die von Clarissa Herbst mit weißer Lackfolie ausgekleidete Bühne des Werkraums - auf ihrer kleinsten Bühne also breiten die Kammerspiele das schwierige Thema vor circa 40 zugelassenen Zuschauern aus. Von hinten gucken einen aus den Fensteröffnungen zwei große Comic-Augen an, Weigel hat einen Umzugskarton dabei. Darin die allerletzten Hinterlassenschaften eines Heimbewohners, eine Pyjamahose, alte Slipper, eine Schnabeltasse, ein Fotoalbum. Weigel zieht sich um, zieht die Bruno-Banani-Unterhose aus und eine Windel an, verwandelt sich in einen Pflegheimbewohner. Dann kommen die vier anderen Mitspielenden auf die Bühne und donnern einen Chor der Misere ins Publikum.

 

Man kennt sie, und sie kommt hier mit einer zunächst gar nicht unfröhlichen Entrüstung daher: Die Menschen werden immer älter, die Pflege wird immer teurer, keiner will die Alten daheim haben, weil man Karriere machen und die nächste Netflix-Serie anschauen will. Also holt man ungelernte Arbeitskräfte aus dem Ausland, die sind willig, billig und machtlos, und wenn man von denen nicht genug findet, dann kann man ja einen Roboter hinstellen. In Videoanimationen lernt man dann Lio, Garmi, Rollin' Justin und Pepper kennen, die ausschauen wie sich bewegendes Werkzeug, eine Figur aus den "Transformers" oder wie ein Hui-Buh-Gespenst mit Touchscreen. Sie sollen das tun, wofür im Heim die Zeit fehlt und daheim die Lust, man denke auch schon über einen Einsatz in Hospizen nach, doch will man als Letztes in seinem Leben einen Geist mit Flachbildschirm sehen? Außerdem können die noch recht wenig, bleiben im dicken Teppich stecken oder fallen um. Aber: Sie können hier zu einem Tänzchen animieren.

 

Diese Geriatronik wirkt bald wie ein technischer Machbarkeitsirrsinn, die Wissenschaftler loben die Menschlichkeit der Pflegenden, und mit einer wütenden, verzweifelten Suada von Johanna Eiworth beginnt die Vollendung der Anverwandlung der Darstellenden. Weigel, ein Baum von Mann, und Erwin Aljukić, ein zarter, an der Glasknochenkrankheit leidender, wundervoller Schauspieler, tanzen einen anrührenden Pas de deux, Christian Löber versucht, die Robotik zu erklären, und verliert wie in beginnender Demenz die Worte. Die einem selber nun im Hals stecken wie ein dicker Kloß. Viel hat man in den vergangenen Monaten über den Pflegenotstand gelesen; kaum ein Artikel traf so tief wie dieser Abend.