Heft Oktober 2019

Protagonisten

 

Traurige Tropen im neoliberalen Vollzug

 

Die bolivianische Gefangenenstadt Palmasola und ihre Inszenierungen – Über ein Theaterprojekt von Christoph Frick

 

von Hugo Velarde

 

Die Nachricht erreicht mich während der Leipziger Buch­messe im März 2019: Ich soll nach Santa Cruz de la Sierra fliegen, um über „Palmasola“, die neue Theaterproduktion des Schweizer Regisseurs Christoph Frick und seines europäisch-bolivianischen Teams, zu berichten. Einen Monat später sitze ich am Tag der Generalprobe auf Einladung des Leiters des örtlichen Goethe-Instituts Franz Josef Kunz, der das Projekt gefördert hat, in einem zentral gelegenen Restaurant beim Mittagessen.

 

Der Blick auf Santa Cruz frischt die Erinnerung an dessen ehemals provinzielle Konturen auf, die nunmehr einer sich in Ringen ausbreitenden Metropole gewichen sind. Aus ihrem zehnten Ring ragt Palmasola, die berühmt-berüchtigte Gefangenenstadt, heraus – eine Miniatur der gesamten Stadt oder, wie die Schauspieler sagen, vielleicht sogar ganz Boliviens. Zu dieser Miniatur gesellt sich nun die nächste: Fricks dokumentarisch und ästhetisch außerordentlich anspruchsvolle Inszenierung „Palmasola“.

 

Schon bei der Generalprobe wie auch bei der Premiere am nächsten Abend entfaltet die Produktion, die am 27. und 28. April im Centro de Cultura Plurinacional im Rahmen des 12. Internationalen Theaterfestivals 2019 von Santa Cruz de la Sierra gezeigt wird, ihre beunruhigende Wirkung: Das Stück durchläuft experimentell die Gewaltexzesse in dieser einzigartigen Haftanstalt. Palmasola ist Regel und Ausnahme zugleich; ein Mysterium, das jeder Insasse, will er überleben, möglichst schnell erkunden muss.

 

„Eine Linie! Keine Paare! Dokumente in der Hand. Keine Extrakonditionen …“ Der Polizist, der den Eintritt in die Gefängnisbühne regelt, trägt eine echte Uniform und stellt bereits einen performativen Widerspruch dar. Denn wie sich bald herausstellt, ist in Palmasola die Königin Ausnahme eine unangefochtene Hüterin des Lebens. Auf der Bühne angelangt, einer Art Tiefgarage mit teils aufgeplatztem Betonboden, bewegen sich Schauspieler und Publikum mit- und nebeneinander. Es gibt keine Stühle, niemand sitzt. Die existenzielle Not, die Palmasola bedeutet, soll den Zuschauern in die Knochen fahren; auch der in Verzweiflung mündende Nihilismus, der im katholischen Santa Cruz einer Häresie gleichkommt: „Denn Gott hat … Urlaub. Jetzt sind wir am Drücker!“

 

Die vier Schauspielerinnen und Schauspieler verkörpern keine festgelegten Figuren, sondern einen Querschnitt verschiedener Akteure, die auf das Gefängnisuniversum und seine Geschichten blicken. Jorge Antonio Arias etwa schlüpft in die Rolle von El Oti (Anagramm aus Tio = Onkel, einer Art „Pate“), dem Anführer von Palmasola bis zur Razzia vom 14. März 2018, während Omar Callisaya verschiedene Mitläufer in Szene setzt. Vorzüglich dabei: Marioly Urzagaste in der Rolle der Frauen im Gefängnis und der Auftritt von Nicola Fritzen, der – in Anlehnung an den ehemaligen Häftling Claudio Q. – den von seinen bolivianischen Mitinsassen gequälten, verzweifelten Gringo Klaus aus der Schweiz spielt.

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Inszenierte Realität

Palmasola gilt als eines der härtesten Gefängnisse der Welt. Da sich der Staat hier vom klassischen Panoptikum der Aufsicht verabschiedet hat, werden keine Zellen zur Verfügung gestellt. Die Insassen müssen ihre Unterkünfte selbst mieten, kaufen oder mit Gewalt erkämpfen. So wird ihnen, Schwachen wie Starken, die Gestaltung des Lebens selbst überlassen – ein rüdes Laissez-faire ohne juristisch verbindliche Rahmenbedingungen. Mehr als siebzig Prozent der Häftlinge sitzen jahrelang ohne Urteil ein; dieses kann oft erst mit dem „nötigen Geld“ – meist Tausende von Dollar – zur Bestechung von Staatsanwälten oder Richtern erwirkt werden. Für die meisten Insassen ein unerschwinglicher Luxus.

 

Palmasolas Hackordnung ist ebenso zynisch wie gnadenlos. Von den weniger Privilegierten im sozialdarwinistischen Schlachthof wird bedingungslose Akzeptanz der sozialen Hierarchie erwartet. Das erinnert an Étienne de La Boéties Schrift „Von der freiwilligen Knechtschaft“ aus dem 16. Jahrhundert, wonach Unterdrückte ihre Knechtschaft oftmals nicht nur hinzunehmen, sondern selbst herbeizuführen bereit seien. Dennoch ist das ökonomisch und soziokulturell kastenmäßig organisierte, selektive Strafsystem paradoxerweise ohne staatliche Intervention nicht funktionsfähig. Zur Disziplinierung und mithin Befriedung der unterschiedlichen Gefangenenschichten war der bolivianische Staat durchaus erfinderisch: Anstelle des Wächters im „klassischen“ Gefängnis „zivilisierter“ Westeuropäer tritt in Palmasola der charismatische Anführer auf den Plan, den, je nach Lage oder Interesse, der Staat ins Gefängnis einschleust – und nach Belieben oder arglistigem Ansinnen absetzt oder gar umbringen lässt. Mutmaßungen zufolge stellt er als Gratifikation für botmäßiges Verhalten auch die Beteiligung am Geschäft mit der „Weißen Königin“ innerhalb und außerhalb des Gefängnisses in Aussicht. Denn Gefangene, die den Knast mittels Bestechung unbehelligt verlassen dürfen, um ihrem Kokaingeschäft draußen weiter nachzugehen, werden, so das legalistisch verlogene Argument, wohl nicht draußen gewesen sein! Das Gefängnis als sicherer Schutz vor Strafe – eine abstruse, bolivianische Inszenierung.

 

Für die Gefangenenelite in Palmasola gilt also Max Webers dritter Typus legitimer Herrschaft uneingeschränkt: der charismatische Führer, dem die außeralltägliche Hingabe an die Heiligkeit oder Heldenkraft gilt, mit dem man feiern kann, der bonapartistisch über den Klassen steht, der für die Gebrechlichkeiten des Lebens immer eine Lösung hat und dafür nur eines will – unbedingten Gehorsam. Wozu dann noch Wächter in dieser selbstreferenziellen, schmerzhaften Groteske des ­Leidens, des gehorsamen Überlebens und des orgiastischen Feierns?

 

„Palmasola“-Zyklen

All das wird in Christoph Fricks Inszenierung akribisch verdichtet: Das Dokumentarische paart sich mit magisch-realistischen Elementen, die jahrhundertelang den soziokulturellen Kontext geprägt haben. „Palmasola“ ist insofern auch ein ästhetisches Konzentrat Lateinamerikas – eine Miniatur, in der Traumwelten, Gewalt und damit Albträume eine eigenartige Symbiose bilden.

 

Im November 2016 besuchte Frick zum ersten Mal Palmasola und lernte den inzwischen begnadigten Insassen Claudio Q. aus Zürich kennen, der wegen Kokainschmuggels einsaß. Eine weitere wichtige Informationsquelle war für ihn die Ordensschwester Monica Stalder, die sich um die ausländischen Insassen kümmert und mit den ungeschriebenen Gesetzen des Gefängnisses bestens vertraut ist.

 

Im September 2018 kam das gesamte „Palmasola“-Team zum ersten Mal in Santa Cruz zusammen. Den Auftakt bildeten Workshops mit Insassen; Interviews mit Anwältinnen, Vertretern der Gefangenenregierung, dem Polizeioberst und mit Palmasolas Koch und seinem Küchenteam folgten. Diese Binnenperspektive aus Palmasolas Höllenkreisen wird ergänzt durch die soziokulturelle Sicht, die der bolivianische Psychologe und Reporter Jhonnatan Torrez, neben Carolin Hochleichter verantwortlich für die Dramaturgie, ausgehend von seinen eigenen Reportagen und Recherchen in die Produktion einbrachte und damit die Strukturanalogie zwischen den Klassenhierarchien im Makrokosmos von Santa Cruz und dessen miniaturisiertem Gefängnisuniversum herstellte.

 

Seit September 2019 arbeitet das Team in der Schweiz an einer mehrsprachigen Adaption für Europa, die am 11. Oktober 2019 in der Kaserne Basel ihre Premiere feiern wird. Von dort aus wird die Produktion auf Tour in die Schweiz und nach Deutschland gehen.

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Heft Dezember 19

Parcours durch die Hölle

Das Theater Klara entwickelt in Koproduktion mit dem Goethe-Institut, der Kaserne Basel und dem Theater Tuchlaube Aarau ein Stück über eine bolivianische Gefängnisstadt: „Palmasola“

 

Nur in Barcelona wird noch mehr Kokain konsumiert als in Zürich. Unter den ersten zehn von 56 europäischen Städten, in denen das European Monitoring Centre for Drugs and Drugs Addiction 2017 die Abbaustoffe in der Kanalisation maß, sind fünf aus der Schweiz. Dortmund liegt auf Platz zehn, Frankfurt auf Platz zwölf. Man wird nicht sagen können, dass die Geschichte (um den Ausdruck «Stoff» zu vermeiden) uns nichts anginge, mit der sich das Theater Klara in «Palmasola» befasst (und von dessen Entstehung Enis Maci in TH 10/19 berichtete)

 

Ausgangspunkt ist die authentische Erzählung eines Drogenkuriers, der sich an den Recherche-Arbeiten beteiligt hatte, ein Türöffner im wörtlichen Sinn: Noch vor dem Einlass in die Kaserne Basel macht uns der Schauspieler Nicola Fritzen zu Komplizen dieser Figur, eines Schweizers mit Namen Klaus (ein «Klaus» ist in der Schweiz ein Tölpel), der sich wegen eines Missgeschicks an der bolivianischen Grenze erwischen lässt, vollgestopft mit Kokain-Kapseln. In den Gefängnissaal geht’s dann in Einerreihe und unter dem spanisch bellenden Kasernenkommando des Schauspielers Omar Callisaya Callisaya; jede*r wird am Handgelenk abgestempelt, was man durchaus metaphorisch verstehen darf, was aber natürlich auch an den Einlass in heimische Clubs erinnert. Damit haben sich die südamerikanisch-europäischen Verspiegelungen allerdings. Was folgt, ist ein Parcours durch die Hölle.

 

Die Hölle dieses Knasts mit dem sonnigen Namen, der sich zur Parallelgesellschaft ausgewachsen hat. Auf 6000 Gefangene kommen laut Recherchen der Gruppe 60 Wärter: Die Strukturen sind mafiös, basieren auf Schutzgelderpressung. Derecho de piso, Derecho de vida, Wohnrecht, Überlebensrecht, wer sich's leisten kann, kommt sogar in eine Zelle, und natürlich ist der «Suizo» eine Cashcow erster Güte. Gefangenenrechte? Lassen die Schauspieler den Zuschauer* innen mal als irrelevanten Fremdtext auf dünnem Papier um die Ohren flattern. Dafür gibt es die knasteigene Pizzeria, Videoläden, Schreinereien, Familien mit Kindern, eine Regierung der «Treintones», der Häftlinge mit Höchststrafe, und einen Capo mit Namen «El Oti», was die Slang-Verdrehung ist für «Tio», der Boss.

 

Christoph Frick arbeitet mit einem vier köpfigen bolivianisch-deutschen Ensemble: die Schauspielerin Marioly Urzagaste Galarte und die Schauspieler Jorge Antonio Arias Cortez, Callisaya Callisaya und Nicola Fritzen. Der Fokus verschiebt sich schnell von der Parsifal-Geschichte auf eine bolivianische Tragödie. Sie halten geschickt das Gleichgewicht zwischen dokumentarischer Vermittlung und direkter Ansprache, involvieren die Zuschauer*innen, die nicht beobachtend auf einer Bestuhlung sitzen, sondern auf dieser Tour mitgehen müssen, bei der die Ecken des Kaserne-Reitstalls andeutungsweise zu den verschiedenen, im Terror graduell sich steigernden «Pisos» werden. Die Inszenierung kulminiert im Bericht von einer massiven Polizei-Intervention im März 2018, die offenbar eine Woche lang zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Palmasola führte und dem System des «Tio» ein Ende machte. Wie einen Abspann stellt Frick an den Schluss Videoaufnahmen der Recherchen vor Ort, die nach der Immersion wieder Distanz schaffen. Dabei allerdings auch eine Normalität suggerieren, der man jetzt nicht mehr recht trauen mag. Denn das Kunststück ist ja, einzutauchen, ohne spekulativ zu werden, eine Projektion zu schaffen, die nicht voyeuristisch ist. Gerade einem Schauspieler wie Jorge Arias, der offenbar selbst zwei Mal in Palmasola einsaß, gelingt eine Objektivierung, die frösteln macht, wenn er die Foltermethoden in Palmasola erklärt.

Andreas Klaeui