TAGESANZEIGER

Samstag, 21. September 2002

 

Tell im Krieg

Das Luzerner Theater zeigt eine rundum geglückte Adaption von Schillers „Wilhjelm Tell“

 

Von Philipp Gut

 

Wilhelm Tell lebt, zumindest am Luzerner Theater. Nach dem Clebritiy-Trash-Musical „Tell Star“ ist jetzt eine weitere Adaption des nationaldramas zu sehen, mit dem Friedrich Schiuller zur Zeit der von Napoleon diktiereten Mediationsverfassung nicht nur den Schweizern „den Kopf wieder warm zu machen„ gedachte. Allerdings wagt man fast nicht, die beiden Produktionen zu vergleichen. 2Es war ein grosses Volks (hinten im Lande)“, die Version des Regisseurs Christoüh Frick, der mit dem Basler Theater Kara bekannt geworden ist, kürzt Schiller um mehr als nur eine Länge und ist doch ein grosser Wurf. Düster und licht, hart und schön, von einer Radikalität, die gerade deshalb überzeugt, weil sie noch im massivsten Eingriff die Liebe zum utopischen Urtext erahnen lässt.

 

Kein lächelnder See, kein heller Sonnenschein zu Beginn. Es zieht, durch due offenen Tore und Fenster in Alain Rappaports Spanplattensiedlung auf der Bühne. Auch die Saaltüren stehen offen, herein dringt dumpfer Lärm, so könnte der Krieg tönen, es könnten Slaven sein (differenziert wie immer die Musik von Malte Preuss). Transit Uri. Die Schweiz, ein Durchzugsland. Umrisshafte Gestalten schleichen, ducken sich. Die erste Rede ist eine Flammenrede: „Ihr seid auch Männer“, ruft Gertrud, „wisset eure Axt zu führen!“ Die Frau Stauffachers ist eine Aufpeitscherin. Schon wirft sich das Paar zu Boden: robben, Übung für den Ernstfall. Bedrohung ist das Element, das die Eidgenossen atmen. Ob aus Witterung für die Wirklichkeit? Oder aus tradierter Paranoia? Die Armee jedenfalls ist bereit. Vomn zweiten Balkon bellt der Kommandant: „Feuer frei!“

 

Tell glaubt sich selber nicht

Fricks fabelhafte Inszenierung kommt fast ohne Gessler aus und mit wenig Tell. Der österreichische Landvogt ist bloss als Stimme aus dem Off präsent. Der Apfelschuss ist Nebensache, wenn auch eine schöne. Wie der dicke Matthias Buss beim Schuss in seinem Netzshirt zittert, wie ihm der Schweiss unter dem Käppi hervorbricht, das ist menschlich, also rührend. Und wie er vor seiner fordernden Frau (Carina Braunschmidt) versagt, ist männlich.

 

Mit der Haupthandlung hat der Titel schon bei Schiller wenig am Hut, in Luzern läuft sie erst recht an ihm vorbei. „Es war ein grosses Volk, hinten im Lande, nach Mitternacht“, so beginnt die Herkunftssage, mit der Thomas Hostettlers kahlköpfiger Stauffacher das Triumvirat mit Arnold von Melchthal (Michale Wolf) und Walther Fürst (Susanne Abelein) auf Kriegsfuss bringt. Bevor man es vergiesst, wird hier noch einmal die Einheit des Bluts beschworen beschworen, eine euphorisierende Erhebung des verltzlchen Einzelnen zum fiktiven Volkskörper. Tells Spruch „Der Starke ist am machtigsten allein“ glaubt er wohl selber nicht.

 

Reden vom gerechten Krieg

Die drei Eidgenossen haben eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, die mit Notstandsgesetzen operiert. Umso notwendiger wird es, die Rechtmässigkeit eines Krieges zu betonen, der ihr angeblich von Terroristen aufgezwungen wurde. In diesem aktuellen Problem, das durchaus von Schiller her zu denken ist, hat die Inszenierung ihr Zentrum. Schon Stauffacher wusste, dass im Kampf gegen Tyrannen (oder eben: Terroristen) Legitimität und Legalität in Konflikt geraten können. Das Unrechtmässige wird dann gerecht. Ein vorübergehender Rückfall in den Naturzustand wird in Kauf genommen.

 

Darum tragen die modern-archaischen Eidgenossen (Kostüme: Viva Schudt) neben Knieschonern und Skitoureninnenschuhen Fellschürze und Zottelperücken. Mit einem frech montierten Arafat-Zitat liefert Wendehals Rudenz ihnen schliesslich das ultimative Argument zum Widerstand. Freilich: Der Kaisermörder Parricida  grinst als nich abzuschüttelnder Schatten am Fenster. Ambivalent ist noch der grösste Held, selbst die tapferen Eidgenossen kennen das Verzagen. So wirklichkeitsnah hat man unserer Ahnengrinden selten gesehen. Die interpretatorische Intelligenz und die Sorgfalt, mit der Licht (Gérard Cleven), Musik und Schauspiel zusammengefügt werden, machen diesen Luzerner „Tell“ zu einem herausragenden Ereignis.


24.09.2002

DIE WELT

 

DAS GUTE SCHAF IM ALTEN WOLFSPELZ

 

In Luzern zeigt Regisseur Christoph Frick die Schweiz als übergeschichtlichen Ausnahmezustand

 

Von Karsten Umlauf

 

Luzern – Unter Kuhglocken begraben liegt der Mythos „Wilhelm Tell“. Und wer könnte ihn besser darunter hervorzerren als die Zentralschweizer selbst. In Luzern, keine Viertelstunde von Küssnacht entfernt, zeigt Regisseur Christoph Frick die Schweiz als übergeschichtlichen Ausnahmezustand. In Steinzeitfelle gekleidet, Maschinengewehrsalven im Hintergrund sind die Schweizer auf der Suche nach ihren Wurzeln. Und das, was sie als bunte Kabel aus der Erde ziehen, ist ein Art Blut-und-Boden-Ideologie. Friedrich Schillers Sentenzen als Rechtfertigung von Terrorismus oder von Anti-Terror-Krieg: Bush und Arafat-Zitate fallen auf fruchtbaren Schweizer Mythengrund. Ein neutrales Land, gezeugt aus Kriegsgeschwätz. Mit neun Schauspielern und einer Kinderkapelle bläst die Inszenierung Tonnen Theaterstaub von Schillers Text und nimmt ihn trotzdem ernst. Tell (Matthias Buss) ist als schmerbäuchiger Waffenprolet keine Karikatur, sondern ein grobschlächtiger, liebevoller Vater. Die Steinzeit-Schweizer pflegen ihre Neutralität und beobachten hinter einer Fensterscheibe ängstlich den Tyrannenmord. Die Schweiz als Schaf im Wolfspelz. Der Tell hat sein Schuldigkeit getan, nun lasst uns begraben. Und alle Kuhglocken bimmeln.


Neue Luzerner Zeitung

21. September 2002

 

Luzerner Theater: „Es war ein grosse Volk (hinten im Lande)“

 

Die Freiheit sitzt im Eigenheim

Das Luzerner Theater zeigt Schillers "Wilhelm Tell“ in eigener Fassung und mit reduziertem Personal. Klug und witzreich entfaltet das Stück brennende Aktualität.

 

Von Urs Bugmann

 

Bedrohung liegt in der Luft. Auf leerer Bühne steht mit Sicht in Wohnbereich und Küche, Durchblick durchs Fenster und Aussenterrasse oben drüber ein neues properes Eigenheim. Mitsamt Kaminfeuer und Hut neben der Tür (Bühne: Alain Rappaport). Dort lugt eine Gestalt hinter der Geländerbrüstung hervor, dann tritt einer auf, gekleidet wie die prähistorischen Alpenbewohner – oder die weihnächtlichen Hirten an der Krippe – in eine Fellschürze und juchzt in die Leere. Ein Hund schleicht heran, heult und zeigt die Schweizerfahne, mit der sein Pelz ausgefüttert ist (Kostüme: Viva Schudt). Christoph Frick, der am Luzerner Theater Schillers „Wilhelm Tell“, den Gründungsmythos der Schweiz, in einer mit der Dramaturgin Viola Hasselberg erarbeiteten Fassung inszeniert, lässt sich Zeit, die bedrohliche Stimmung dauert und dauert, nur langsam kommt das Stück in Gang.

 

„Vielleicht ein Museum“ sagt Xun Cetta, der mit Abetare Hakin als „Besucher aus dem Kosovo“ auf die Szene tritt und sich alles gut anschaut: solid gebaut, neues Haus, und die Chromstahlpfanne ist vielleicht 600 Jahre alt. Schillers „Tell“ wird in dieser Inszenierung ganz und gar anachronistisch. Wilhelm Tell (Matthias Buss), der Freiheitsheld, tritt zwar noch immer mit der Armbrust auf, doch trägt er den Topfhut und ein Netzhemd, und wenn er trotz der Bitten seiner Frau doch nach Altdorf aufbricht, soll er wenigstens die Güselsäcke mit zum Container nehmen.

 

Werner Stauffacher (Thomas Hostettler), der sich mit Walther Fürst (Susanne Abelein) zum Widerstand gegen die landesherrliche Fürstenwillkür zusammenrottet, putzt die Fenster seines Heims „auf eigenem ererbten Grund“, dann zieht er den Rost aus dem Backofen und spritzt Putzmittel in die Zwischenräume. Die Freiheit sitzt im Eigenheim, hier ist sie bedroht. „Wir stiften keinen neuen Bund“, sagt Stauffacher, und erzählt den Mitverschworenen, „was die alten Hirten sich erzählen ./ Es war ein grosses Volk hinten im Land. / Nach Mitternacht, das litt von schwerer Teurung.“

 

Es geht um Behauptung und Selbstbehauptung, um die eigenen Wurzeln – die aus dem Bühnenboden herausgerupft werden, und es geht um das Recht auf Widerstand und Auflehnung. Das steht alles bei Schiller, nur geht es in der Folklore, die gewöhnlich aus dem Stück gewonnen wird, ganz und gar unter. Viola Hasselberg und Christoph Frick haben den Grundklang des Stücks befreit, und in ihre Fassung passt auch der als Mönch verkleidete Parricida, der Mörder seines Oheims, des Kaisers, mit dem selten eine Inszenierung etwas anzufangen weiss. Tell will ihm nicht helfen: Mörderblut hat der Flüchtende an den Händen, aus Neid und Missgunst, nicht aus Eigenwehr wie Tell, hat er gemordet. Tell schickt ihn weg, er will nicht gehen. Da kurbelt Tell die Jalousie herunter, sperrt weg, was er nicht sehen will.

 

Wechselnde Rollen

Das Stück ist in Luzern für sechs Schauspieler in mehreren Rollen eingerichtet, dazu kommen die zwei Besucher aus einem fremden Land und eine Blaskapelle von als Erwachsenen kostümierten, mit Klebebärten ausstaffierten Jugendlichen, die zum grossen Freiheitsfest aufspielt.  Das Gerüst der Handlung blieb erhalten, bloss Gessler tritt nicht auf, sondern tönt nur aus dem Off mit lupenreinem österreichischen Akzent. Dafür zeigt sich Berta von Bruneck (Carina Braunschmidt) im Bikini mit allen Reizen, denen Ulrich von Rudenz (hinreissend wendig: Samuel Zumbühl) in Turnhose und Adiletten, hinterher galoppiert. Hingerissen von Berta, rappt er zu ihrem Namen, und aus lauter Faszination vor der Fremden beginnt er ganz ausländisch zu singen. Wenn er von dieser Ausländerin zu vaterländischem Verhalten bekehrt ist, präsentiert er sich in Schweizer Armeeuniform als adretter Offizier.

 

Schweizer Befindlichkeit

An solcherlei Witz und Hintergründigkeit ist die Inszenierung voll. Leichthin spielen die Schauspieler die alte Mär und ihre neuen Implikationen: Vom Zettel lesen sie Reden ab, wie sie George W. Bush hielt oder Kofi Annan, der über Terrorismus sinnierte – respektlos ist das manchmal und böse. Doch dem Stück wird Respekt entgegengebracht, seine Zitatenfülle wirkt jetzt plötzlich nicht mehr als Phrasenkatalog, sondern erhält neuen Sinn – weil die Sentenzen in der fremden Umgebung dieser unernsten Kostümierung ernst wirken können.

 

Es ist ein vergnüglicher Spass – und weit mehr, es ist die kluge Aktualisierung eines allzu bekannten Stücks, das nun den Kern der Schweizer Befindlichkeit ganz neu zu treffen vermag.