15. März 2005

Klon-Chronik und Clan-Chronik

Theater Klara mit „DNA“ im Theaterhaus Gessnerallee

 

von Alexandra Kedves

 

Es war schon überall, das 1991 gegründete Theater Klara. Dass es jetzt, kurz nach der Uraufführung seiner jüngsten, umfassendsten Arbeit, „DNA – Eine Familiensaga“, in Zürich gastiert, ist ein Geschenk: Stammzellengeschichte und Stammbaum-Melodramen werden da zu einer theatralen Doppelhelix verschlungen, die man gesehen haben muss.

 

Dreieinhalb Stunden Theater? Dreieinhalb Stunden Theater! Oder: Was ihr nicht wollt, und wie es euch – uns – trotzdem gefällt. Oder: die Fortsetzung von Wissenschaftsgeschichte und Wurlitzer Historie, von Familiensaga und Fernsehmelodram mit anderen Mitteln. Oder einfach: „DNA“. Die Formel allen Lebens ist auch die Formel eines phänomenalen Bühnengeschöpfs, das im Labor des Basler Theaters Klara gezüchtet wurde. Die Kultgruppe mit Forscherdrang, die sich 1991 um den damals 31-jährigen Christoph Frick gebildet hat, wartete Ende Februar mit einer Uraufführung auf, die eine Erfolgsgeschichte ist: Die In-vitrio-Fertilisation zwischen Didaktik und Dramatik hat geklappt, die theatrale Doppelhelix hat keine Fehlinformationen und kann jetzt im Theaterhaus Gessneralleee bewundert werden. Das Erbgut des Stücks setzt sich aus ungefähr 150 Jahren irischer Clan-Chronik und rund ebenso langer Klon-Chronik von Darwin bis Dolly zusammen.

 

Grosse Hände, grosser Mut

 

Ausgangs- und Endpunkt ist Gene O’Flattery (Philippe Nauer). Gene ist keiner, der seine – ungewöhnlich grossen – Hände in den Schoss legt, wenn Not an Mann ist auf dem kleinen Hof im irischen Seals Head. Und Not herrscht eigentlich immer. Der Mann mit dem sprechenden Namen versucht vergeblich, eine eierlegende Wollmilchsau zu kreieren. Schliesslich, im Jahre 1901, wird er (wenigstens) Vater einer Tochter, die seine Hände hat, von der Kostüm- und Bühnenbildnerin Clarissa Herbst hübsch hässlich zugeschnitten; verräterische Hände: Auch der Ehemann der Mutter – Genes Bruder – kann sie und ihre Vererbungslinien lesen. Also schifft Gene O’Flattery nach Afrika ein, wo er rasch Arbeit findet und Frauen auch: „Sie sehen Gene O’flattery im Gespräch mit einem Kikuyu-Vorarbeiter. Gene hat fünf Töchter, und drei haben seine Hände“, rafft der (postdramatische) Erzähler Jahre und Jahrzehnte zusammen.

 

Genes erste, irische Tochter – Gena – macht sich derweil auf nach New York: Die Schauspielerin Bettina Grahs zischt das Meeresrauschen ins Megaphon, wenn sie sich aufs Deck phantasiert; sie umspielt ihre Haare, wie die Meerbrise es tun würde, und stolpert über ihren kleinen Koffer. Im Fond legt die Freiheitsstatue einen Charleston hin, im Vordergrund sind die paar weissen, multifunktionalen Blöcke zum Einwanderungsbüro auf Ellis Island zusammengeschoben: Das Bühnenbild ist eine DNA für sich, eine Jukebox mit einer Handvoll Grundelemente, aus denen Clarissa Herbst leichthändig alles vom Dampfer über die Abtreibungsklitsche bis zum Kongresshaus baut.

 

Später wird Gena mit einem (historischen) Spross der Jukebox-Familie Wurlitzer anbandeln, der wiederum verheiratet ist mit einer Mitarbeiterin aus Thomas Hunts (historischem) berühmten „Fliegenzimmer“. Hunt erhält 1933 für seine Chromosomenforschung bei Fruchtfliegen den Nobelpreis. Szene um Szene entwickelt das Theater Klara seine Doppelhelix, rollt es den Forschungsfaden der Vererbungslehre auf und den Familienfaden Genes. Im Jahr 2001 sehen wir den fast 150-jährigen Greis im Zug sitzen, Erinnerungen im Kopf und einen Knochen in der Hand: Potential für die Produktion einer ganzen Sippe. Die Welt ist eine Wurlitzer geworden. Doch seine Urenkelin fragt bloss: „Und wozu?“

 

Schwere Fragen, leicht gemacht

 

Der Regisseur Christoph Frick hat das Konzept dieses Mammutprojekts zusammen mit der Autorin Suzanne Zahnd entwickelt: Von den ersten Experimenten mit Pflanzen und Fliegen bis zu den Ethikdiskussionen über Klonschafe und Klontherapien haben sie nichts ausgelassen, selbst Tafeln, Tabellen und Tageslichtprojektoren fehlen nicht – und dennoch blüht es, das Leben auf der Bühne wie in der Familie O’Flattery. Ohne Umstände werden Szenerien flüchtig hinskiziert oder auch nur hinparliert („visuallisieren Sie...“). Mal wird mit Puppentheaterkunst das Verhältnis zum schwarzen Kontinent damals und heute fein-gemein hingekaspert (Puppenspiel Dorothee Metz); mal geht es im Schnelldurchlauf durch die Musikgeschichte (Musik: Martin Fischer), und wir gehen mit. Und auf den Brettern geht es rund: Die Erzählstränge fassen sich zart an den Händen, die Figuren drehen sich federleicht in die Geschichte(n) hinein und hinaus, und die acht Schauspielertanzen locker von Setting zu Setting. Ein rundum charmantes Stammbaumringelreihen!


15. März 2005

Doppelte Spiralen und einsame Stimmen

Grosse Saga, grosses Erbe: In „DNA“ kreuzt das Theater Klara Geschichte von der menschlichen Vervielfältigung. In der Gessnerallee war Zürcher Premiere.

 

Von Tobi Müller

 

In Irland herrscht der Grosse Hunger. Auch bei den Gebrüdern Gene und Mitch O’Flattery, die das letzte Lämmchen verkaufen. Bleiben ein Schwein und ein Schafbock, die sich partout nicht besteigen wollen. So ein Schafschinken, das wäre gut, denkt Gene. Doch Gene besteigt lieber die Frau seines Bruders. Weil das Kind bald die grossen Hände Genes entwickelt, muss Gene gehen. Nach Afrika!

 

Schon nach der ersten Viertelstunde traut man Augen und Ohren nicht. Das Theater Klara, die freie Gruppe mit ihrem Flair fürs Chaos und Verflüchtigung alles Figürlichen, erzählt auf einmal sauber und ordentlich, ja episch. Der Stammbaum der O’Flatterys wird biblisch ausgebreitet, per Megaphon erfährt man von den Nöten des Grossen Hungers. Klar, die Tiere sprechen Gebete und singen Choräle, ein bisschen Absurdität muss sein. Aber auch nicht viel mehr, als die heimliche, historische Matrix dieser Klara-Saga bereits brauchte.  Denn als Gene verstossen wird und in den dunklen Kontinent aufbricht, merken wir: Gene ist ein Peer Gynt wie aus Ibsens nordischem Menschheitsdrama

 

Philippe Nauers Gene hält diesen Ritt mit zwei Pausen durch Familien, Kontinente und Erfindungen zusammen. Das Peer-Gynt-Motiv des Hochstaplers vererbt sich dabei wie Genes grosse Hände (s. Kasten). Regisseur Christoph Frick inszenierte „Peer Gynt“ vor zwei Jahren in Luzern. Als formales Rückgrat wurde diese Erfahrung nun in den Text von Suzanne Zahnd, Frick und Ensemble verpflanzt. Das tut den Klaras gut. Denn das Thema im Titel verlangt viel Struktur: „DNA“, die englische Abkürzung der Desoxyribonukleinsäure, dieser doppelten Schlaufe im Zellkern, dieses Buchs, das uns enthält. Klara ringt klug mit den Giganten, mit Ibsen, mit der DNA, mit der Moderne schlechthin.

 

Ungläubig aber fasziniert schaut Gene den in sektiererisches Weiss gekleideten Kolonialisten zu (Kostüm und die sprechend einfache Bühne aus weissen Schiebewänden: Clarissa Herbst). „Alles ist Rasse“, lernt der irische Bauer. Bis die Puppe des geschleiften schwarzen Mannes zu laufen beginnt. Dorothee Metz sorgt für den ersten unheimlichen Moment. Gene lernt: Züchten heisst beherrschen.

 

Nicht alles lässt sich determinieren. Mit Genes Nachkommen in vielen Weltteilen, die die Forschung von der Drosophila-Fliege bis zum Doppelhelix-Modell der DNA streifen, mit dem rasanten Fortgang der Saga wehrt sich das soziale Tier zunehmend gegen seine Vorbestimmung. Gena (Anna Geering) betreibt in Portugal ein Abtreibungszimmer für Salazars Schergen und findet sich doch im brutalen Spiel der Züchtung wieder, nur auf der anderen Seite. Und Frutuoso, ihr pfuschender Sohn auf der Flucht (Michael Wolf), heiratet in Bern die hohe Tochter Gloria De Meuron. Unversehens wird aus dem Tierarzt ohne Diplom ein Schweizer Pionier der Kuhbesamung. Trotz Tragik lassen sich die Klaras die Zote nicht nehmen.

 

„Wozu“ ist das letzte Wort des Abends. Eine Frage schliesst ab, keine Antwort. Aber sie schimmert durch die Erzählstränge hindurch, die sich wie die Doppelhelix paaren und wieder trennen, um sich zu vervielfältigen. Die irischen Züchter und Engelmacher und die amerikanischen Wurlitzers, die Erfinder der Jukebox, schlafen einmal in New York übers Kreuz. So kreuzen sich zwei Spiralen: jene der Säure, welche die Vererbung regelt, und jene der Schallplatte, welche die menschliche Stimme verdoppelt und um die ganze Welt schickt.

 

Wozu unsterblich werden?

 

Klara Geschichte der Erbinformation ist somit auch eine Geschichte der Landnahme, des Imperialismus, des Kriegs und des Klauens mit kulturellen und wissenschaftlichen Mitteln. Und der Einsamkeit, die dabei entsteht. In einer der schönsten von vielen Szenen rollt der alte Famy Wurlitzer in einer kleinen Kabine auf die Bühne (Dominique Rust). Seine Jukebox ist Geschichte, Swing, Bebop und Rock’n’Roll schlangen sich in der schwarzen Spiralrille längst um den Globus. Jetzt nimmt dieser Unternehmer nur noch einsam Stimmen auf und schreibt ein Buch über die Geschichte der Wiedergabe. So sehr Wurlitzer zur Verbreitung der Stimme beitrug, so sehr ist er am Schluss auf seine eigene zurückgeworfen. Das gilt auch für die DNA, für die Entschlüsselung des ganzen Genoms: Wozu? Wozu unsterblich werden? Diese Ruhe muss man jetzt aushalten. Mit Klara tut man das gerne.