Montag,  11. Mai 2015

"Ein Volksfeind" in Freiburg: Leben heißt im Schlamm wühlen

Der Rest ist Demagogie: Christoph Fricks außergewöhnliche Inszenierung von Ibsens "Ein Volksfeind" am Theater Freiburg.

Aufs Dach: Dr. Stockmann (Martin Weigel) und sein Bruder (Konrad Singer) Foto: Muranyi

Der Auftakt von Christoph Fricks "Volksfeind"-Inszenierung, die am Samstag im Großen Haus des Theater Freiburg Premiere hatte, ist gewagt. Man sieht nicht, was vorgeht, und man versteht nichts. Die Schauspieler agieren unter einem Tarnnetz, das über eine Art aufgeschnittenes Blechiglu auf der Vorderbühne geworfen ist. Und sie sprechen, auch wenn Frick nicht den Originaltext von Ibsen, sondern die Bearbeitung von Arthur Miller als Grundlage gewählt hat, zunächst nur Norwegisch. Im Hintergrund laufen skandinavisch anmutende Küstenbilder.

Nach einigen Minuten schälen sich zwei Frauen in absurden Norwegerkostümen aus dem Netz und übersetzen das Geschehen, als moderierten sie eine Homestory für den Eurovision Song Contest. Frau und Tochter des späteren Volksfeindes Dr. Thomas Stockmann haben damit die Rolle der Frauen in diesem Stück gefunden: Sie sind das attraktive Schmiermittel für das Beziehungsgeflecht einer kleinen norwegischen Kommune, die sich gerade mithilfe eines neuen Kurbades aus der Barbarei in die Zivilisation erheben möchte. Mehr geht für sie nicht, denn, wie Frau Doktor später sagt: "Wir stecken mitten im 19. Jahrhundert."

Frick führt uns heutige Zuschauer also aus größtmöglicher Distanz in Ibsens Lehrstück über Politik und Moral hinein – räumlich, zeitlich und sprachlich. Doch dann fällt das Tarnnetz, aus Distanz wird Nähe, und am Ende stehen wir selbst als Volk auf der Bühne. Zuvor muss man jedoch dem Geniestreich der Ausstatterinnen Jana Findeklee und Joki Tewes Respekt zollen. Das Blechiglu entpuppt sich als Heim des Badearztes Thomas Stockmann. Mit dem Charme einer arktischen Forschungsstation schwimmt es wie ein Floß auf einem Sumpf aus Schaumstofffetzen. Die Ambivalenz des Mannes aus ärmlichen Verhältnissen, der voller Stolz auf das fortschrittliche Heim ist, in dessen Kälte er und seine Familie aber immer deplatzierte Fremdkörper bleiben werden, springt geradezu ins Auge. Wenn Stockmann mit seinen Kameraden dort säuft und Liedgut grölt, fühlt man sich ins romantische Fischerdorf versetzt, wo Touristen bunte Holzboote bewundern, während die Fischer sich in neonbeleuchtetem Neubeton die Kante geben.

Der Schaumstoffsumpf umwabert das Ensemble wie der Urschlamm, aus dem sich der Mensch in unwirtlicher Gegend täglich mühsam herauswinden muss, in den er mit jauchzenden Sprüngen lustvoll regrediert, den er zum Kurbad kultivieren will und doch mit Gerbereiabwässern in eine giftige Kloake verwandelt. Es ist das zur Ibsen-Zeit überall an die Oberfläche drängende Verdrängte. Der Forscher Stockmann will es bloßlegen, der Bürgermeisterbruder will es unterm Deckel halten. Die Fama, bei Ibsen ein Dreigestirn aus Presse, Partei und gesundem Volksempfinden, greift sich immer wieder Fetzen heraus, um dem geschundenen Fußvolk des Kapitalismus ein Erregungsventil herbeizuskandalisieren.

Über diese tolle Bildschicht legen die Schauspieler weitere raffinierte Deutungsschichten. Allen voran Martin Weigel, der den Dr. Stockmann im Ibsen-Yeti-Kostüm so gibt, als würden in ihm die beiden konträren allegorische Figuren Wahrheit und Lustprinzip ständig schwitzend kopulieren. Im Namen der Aufklärung nimmt er die öffentliche Meinung – von André Benndorff wunderbar in all ihrer kleinbürgerlichen Pegida-Launigkeit verkörpert – wie der Höhlenmensch sein Weibchen.

Konrad Singers Bürgermeister Stockmann ist so etwas wie der heimliche Held der Zivilisation in Fricks Ibsen-Interpretation. Er hat sich unter Kontrolle, weiß, wie man die richtigen Strippen zieht und auch, dass Politik keinen Zustand der Unbeflecktheit kennt. Anfangs wird der Bruderzwist noch als pubertäres Kasperletheater vorgeführt, wie Politikerränke in den Medien. Doch im dritten Akt, als das Publikum zur Volksversammlung auf die Hinterbühne gebeten wird, muss es selbst Stellung zu beziehen. Der Realpolitiker kommt beim Freiburger Publikum nicht gut an. Es möchte den Doktor hören. Aber Frick lässt die Zuschauer die Ohnmacht vorm gut geölten Getriebe des politischen Apparats spüren und provoziert einen Hauch Wutbürgertum. Es möchte die Wahrheit hören.

Wahrheit? Die hat immer einen vierten Akt. Für den werden den Zuschauern sämtliche Freiheiten gegeben. Sie können ihn vor oder hinter der Bühne, sitzend oder stehend verfolgen. Aber aus einer Erkenntnis lassen Frick und Ibsen sie nicht raus: So wie die Wahrheit des Doktors mit Aktienbeteiligung beschmutzt wird, steckt die Wahrheit auch in der Politik immer im Sumpf sozialer und wirtschaftlicher Verflechtungen. Leben heißt im Schlamm wühlen und Flöße bauen. Der Rest ist Demagogie. Tolle Inszenierung!
Jürgen Reuss